Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Lukas 19,10
„Irren ist menschlich“ sagt der Volksmund und greift dabei eine natürliche Beobachtung aus dem alltäglichen Leben auf: Menschen machen Fehler, sie können sich irren. Die Größe des Menschen hat seine Grenzen und man weiß darum. Natürlich, wenn es dabei um besonders große Verantwortung geht, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen, dann ist man nicht ganz so nachsichtig, sondern verlangt Konsequenzen. Aber es klingt schon fast wie eine Entschuldigung und Beschwichtigung, wenn bei Katastrophen-meldungen als Ursache des Unglücks gemeldet wird: „ist auf menschliches Versagen zurückzuführen“. Entgegen aller Übervorsichtigkeit und Zaghaftigkeit, die dann schon nicht mehr bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, würdigt Goethe die mutige Tatkraft, die auch mal ins Leere greifen kann: „es irrt der Mensch, solang er strebt“ (Faust I). Das Irren wird also ganz sachlich und nüchtern als Bestandteil des Lebens akzeptiert. Ganz anders ist es dagegen mit dem Wort „Verirren“. Denn mit „Verirrung“ wird kein Makel oder Schönheitsfehler bzw. Kavaliersdelikt angesprochen, sondern der Mensch im Grunde seines Seins als fehlgeleitet und verkehrt abgestempelt. Wer möchte das schon von sich sagen lassen? Und es muss auch keiner von sich sagen lassen! Der jüdische Prophet Hesekiel (34,16) sagt zu seinen Landsleuten nach der Deportation, die er ihnen als Strafe Gottes angedroht hatte: „Gott spricht: Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen.“ In Gottes Augen gibt es kein endgültiges Fehlgeleitet-Sein. Gott kann und will auch die größte Verirrung wieder zurechtbringen. Deshalb müssen wir auch aufhören, andere als verirrt abzustempeln. An diesem Wochenende steht Gottes Bemühen um alles Verlorene im Mittelpunkt der evangelischen Gottesdienste, wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn und verlorenen Schaf, die sich verirrt hatten. Hier wird in lebhaften Bildern von der Liebe Gottes gesprochen, von der Liebe des Vaters, der dem einzelnen Verlorenen mit Leidenschaft nachgeht und dessen Spur verfolgt oder den Verlorenen mit offenen Armen wieder aufnimmt. Das ist Gottes Passion, seine Leidenschaft und Berufung, das Verlorene wieder aufzusuchen oder ihm suchend nachzugehen und dann da zu sein und keinen, der irrt, als „verirrt“ abzustempeln. Möge die Eigenart Gottes abfärben auf möglichst viele seiner Schäfchen, die Gottes Berufung und Leidenschaft als ihre eigene Leidenschaft erkennen und annehmen.
Pfr. Dr. Christoph Rymatzki, Wenigenjen